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Ein Leben zwischen zwei Extremen: Die bipolare Störung
„Wenn du bipolar bist, hat dein Leben keine Kontinuität mehr. Die Krankheit hat deine Vergangenheit zerschossen, und in noch stärkerem Maße bedroht sie deine Zukunft“. So beschreibt der Autor Thomas Melle seine bipolare Störung in dem Buch „Die Welt im Rücken“. Was wissen wir über diese Störung, die auch als “manisch-depressive” Erkrankung bekannt ist?
Das Auf und Ab macht ein geregeltes Leben kaum möglich
Bei Menschen mit einer bipolaren affektiven Störung bekommt die Redewendung „himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt“ eine ganz reale Bedeutung. Sie leiden an einer Störung der Stimmung und des Aktivitätsniveaus. Ihre Erkrankung ist gekennzeichnet durch zwei Episoden, die gegensätzlicher nicht sein könnten.
Zu manchen Zeiten ist ihre Stimmung deutlich gehoben; auch Antrieb und Aktivität sind dann stark gesteigert. Andere Zeiten hingegen sind vom Gegenteil gezeichnet: die Stimmung verschlechtert sich drastisch, Antrieb und Aktivität sinken gleichermaßen.
Für ca. 800.000 Menschen in Deutschland ist dieses Auf und Ab so extrem, dass ein geregeltes Leben schwerlich möglich ist. Bipolare Zustände sind nicht einfach das, was man umgangssprachlich “Wechselbad der Gefühle” nennt. Die Gefühlswelt einer Person mit bipolarer Störung ist extrem. Wie sich der bipolare Zustand anfühlt, lässt sich oft nur schwer in Worte fassen. Ein Versuch:
Ein euphorischer Rausch, der trügt
Innerhalb einer manischen Episode scheint alles möglich. Die Betroffenen fühlen sich euphorisch, enthemmt und haben das Gefühl, sie könnten alles erreichen. An Schlaf ist oft nicht zu denken: Viele Betroffene berichten, dass sie über Tage hinweg überhaupt nicht schlafen. In einer manischen Episode kommt es nicht selten zu einer deutlich gesteigerten Lust auf Sex. Betroffene vergleichen den manischen Zustand mit dem Gefühl, unter Drogeneinfluss zu stehen. Kein Wunder: In der “Hochphase” der Bipolarität wird das Gehirn mit einem Überschuss an Botenstoffen wie Dopamin versorgt.
Dieser auf den ersten Blick euphorische Rausch hat eine dunkle Seite. Während einer manischen Episode verhalten sich die Betroffenen oft unpassend und rücksichtslos. Sie treten nicht selten sehr impulsiv auf und sagen oder tun alles, was ihnen gerade in den Kopf kommt. Da die Gedanken in einer manischen Episode förmlich “rasen” und ein Gedanke den nächsten jagt, wirkt das Verhalten und das Gesagte auf Außenstehende verwirrend und befremdlich. Folglich fühlen sich Mitmenschen vor den Kopf gestoßen oder es kommt zu starken Konflikten oder sogar zum Verlust des Arbeitsplatzes.
Viele Betroffene geben im Rausch der manischen Episode viel Geld aus für Dinge, die sie nicht brauchen oder sich nicht leisten können. All diese Verhaltensweisen können weitreichende Konsequenzen für das Leben der Betroffenen haben. Manche Schäden können dabei nicht wieder repariert werden. Beziehungen leiden oder werden gar zerstört, finanzielle Schäden können nicht mehr rückgängig gemacht werden. In manchen Fällen kommt es zusätzlich zu psychotischen Symptomen, einer starken Verzerrung der Wahrnehmung. Dabei können Betroffene zum Beispiel Halluzinationen entwickeln, bei denen sie Stimmen hören oder Dinge sehen, die nicht existieren. Manche erleben paranoide Vorstellungen – Ängste, dass sie jemand verfolgen könnte oder dass sich jemand gegen sie verschworen hat. Treten diese psychotischen Symptome auf, erscheint Anderen das Denken und Verhalten von Menschen in der Manie oft bizarr und seltsam.
Auf die Manie folgt das tiefe Loch
Das andere Extrem der bipolaren Störung stellt die depressive Episode dar: Über die Welt legt sich ein grauer Schleier und die Betroffenen fühlen sich energie- und antriebslos, pessimistisch und niedergeschlagen. Diese depressiven Episoden sind vielen Menschen als Depression bekannt. Tatsächlich unterscheidet sich die bipolare Störung von einer Depression in der Diagnose nur dadurch, dass nicht nur depressive Episoden, sondern auch manische Episoden auftauchen.
Vielen Betroffenen wird nach einer manischen Episode erst die Tragweite ihrer Handlungen während dieser Zeit bewusst. Das kann zu einer starken zusätzlichen Belastung und intensiven Schuldgefühlen führen. Thomas Melle nennt sich selbst, diesen Zustand reflektierend, einen “hirnversengten Clown” und schildert eindrücklich den Schmerz, der sich in der depressiven Episode ausbreitet.
Manische und depressive Episoden können direkt aufeinander folgen, im fließenden Übergang. Manchmal liegen aber auch ganze Jahre ohne Beschwerden zwischen beiden psychischen Extremen.
Die Bedeutung von Freunden und Familie: Ein waches soziales Umfeld hilft
Der Bruch mit Freunden und Angehörigen kennzeichnet oftmals die manische Episode. Dabei ist das Auffangen durch das soziale Netz gerade in der manischen Phase für die Betroffenen besonders wichtig. Die engen Angehörigen, seien es Familienmitglieder oder gute Freunde, spielen eine große Rolle dabei, frühe Anzeichen der manischen bzw. depressiven Episoden zu erkennen. Gerade zu Beginn einer manischen Episode fehlt vielen Betroffenen die Einsicht in die psychische Erkrankung, so dass sie häufig von sich aus keine frühzeitige professionelle Unterstützung suchen. Achtsam zu sein, wenn sich Veränderungen im Verhalten und Denken der Betroffenen zeigen, spielt eine entscheidende Rolle. Kündigt sich eine erneute manische Episode an, können vertraute Menschen einwirken, indem sie zum Beispiel die betroffene Person darauf aufmerksam machen und anbieten, professionelle Hilfe einzubinden. Je früher die Betroffenen in einer manischen Phase Hilfe erhalten, desto eher kann gefährlichem Verhalten und negativen Konsequenzen vorgebeugt werden.
Sich selbst schützen – durch Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle
Bipolare Störungen stellen für Betroffene eine enorme Belastung und Gefährdung dar. Die Suizidrate ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung 10 bis 15 Mal höher als in der Allgemeinbevölkerung. Deshalb ist es dringend geboten, dass Betroffene professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. In vielen Fällen wird eine Kombination aus Psychotherapie und medikamentöser Unterstützung empfohlen. So kann mit der richtigen professionellen Hilfe die Lebensqualität trotz bipolarer Störung erhalten bleiben. „Die Krankheit hat mir meine Heimat genommen. Jetzt ist die Krankheit meine Heimat”, schreibt Thomas Melle. Was sich zunächst als trauriges Fazit seiner bipolaren Störung liest, lässt sich auf den zweiten Blick auch als Form der Akzeptanz deuten, diese „neue Heimat“ anzunehmen und das Leben trotz „Der Welt im Rücken” selbst zu gestalten.
Thomas Melles Buch “Die Welt im Rücken” ist im Rowohlt-Verlag erschienen.
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